· 

Zirkus

Herein spaziert - Herein spaziert...

rief ich, die sonst eher als introvertiertes und scheues Kind galt. Meine Eltern hätten mich nicht wieder erkannt, hätten sie mich so gesehen. Haben sie leider nicht. 

 

Wir waren erst vor kurzem an diesen neuen Ort gezogen. Freunde in der Schule hatten wir noch keine. Es sollte auch nicht grossartig dazu kommen, denn ein dreiviertel Jahr später zogen meine Eltern mit meinem Bruder und meiner Schwester wieder weiter. Die Idee bei meinen Grosseltern zu verbleiben, welche am anderen Ende des grösseren Ortes wohnten, wurde für mich eine überraschende Lösung. 

Doch vorerst waren wir mal frisch dort gelandet. Der neue Block, in dem wir wohnten, war in Beton gehalten, so auch die Wände im Innern, alles aus grauem Sichtbeton. Damals war das der neueste Schrei. Mich ärgerten sie masslos diese Wände, da kein einziger Poster aus dem Bravo Starschnitt (z.B. James Dean in Lebensgrösse, von dem ich glaubte er könnte mein wirklicher Vater sein, weil seine Nase der meinen sehr ähnelte - hahaha) je daranhalten konnte. Kein Reisnagel konnte in die Wand gedrückt werden und alles was mit Klebstreifen festgemacht wurde löste sich nachts hörbar ab und wenn nicht akustisch wahrnehmbar, erwachte ich am Morgen mit einem zerknüllten Elvis oder Tomatengesicht (wie ihn mein Bruder nannte) Mike Jagger. hahaha heute muss ich darüber lachen. Damals war es für mich in dem Alter der beginnenden Pubertät eine Vollkatastrophe. Zumal das Taschengeld so knappgehalten, dass ich mir nicht jede Ausgabe der Bravo leisten konnte.

Dafür ging ich dann voll auf, auf dem neu ernannten Spielplatz, der einst der Biergarten eines Restaurants war. Der Kiesuntergrund knirschte so herrlich, wenn ich die Pferdchen - ein oder zwei Kinder - welche sich als diese anboten... oder hatte ich sie eben zu diesen Tieren ernannt? ich weiss es nicht mehr...auf jeden Fall, wenn sie über den Kies trabten, hörte es sich wie ein Miniapplaus an. 

Jeden Tag dachten wir uns etwas Neues aus. Es kamen Löwen, Pinguine und Hunde hinzu...wir waren nun vielleicht 6 an der Zahl und darunter wahre Talente in der Imitation des jeweilig gewünschten Tieres. Mein Bruder zeigte sich auch als dressierter Hund und als Bruchpilot (hääää - komisch, war aber so - hahaha) und machte seine Spässe als Clown.

Ich war der Zirkusdirektor, weil ich die älteste von uns war. Interessant, da schrie bei dieser Bezeichnung noch niemand nach Gleichberechtigung. hahaha

Doch halt, beinahe vergessen - für die Eintrittstickets war ich auch noch zuständig. Als Billet wurde ein Kastanienblatt zerkleinert und gegen einen Kiesel erhielt es einen Zuseher. Später - 2 Wochen oder so...waren es dann akkurat geschnittene Zettel und man bezahlte mit 5 Rappen. Mit dem eingenommenen Geld kauften wir Süssigkeiten und teilten sie unter dem "Zirkusvolk" hahaha

Ja - ja, ich bekam immer mehr zu tun – Zirkusdirektor eben.

Nicht nur meinen neu erdachten und unsichtbaren Flohzirkus zum Besten zu geben, einen wie den ich im Abendprogramm in einer Show im TV gesehen hatte, nein, auch den ganzen Ablauf, die Werbung und die anderen Kinder so zu motivieren, dass sie jeden Tag nach der Pflicht der Hausaufgaben, wieder zum Training erschienen, viel in mein Aufgaben Bereich. Es machte so viel Spass, das Ausgedachte jeweils am Mittwochnachmittag vorzuführen. Meist vor Müttern, Andern Kindern oder Omas und Opas.

Das Ausrufen "Herein spaziert meine Damen und Herren" fiel mir immer leichter.

Komisch - ich erinnere mich an keinen Regentag und wie lange wir da zugange waren...??? Keine Ahnung mehr. Wochen oder Monate – auch an das Ende erinnere ich mich nicht. Doch eines weiss ich, Es kostete uns kein Geld, das alles auf die Beine zu stellen. Tücher, ein paar alte Stühle, Regenschirm für das Mädchen mit dem Hochseilakt (dessen Schnur auf dem Boden lag) alte Hundeleinen oder notfalls etwas Wolle als Halterung für die Pferde, Bälle zum Jonglieren und und und... alles wurde von irgendeinem Zuhause mitgebracht oder von jemandem geschenkt. So wurde auch ein ausrangierter Tretroller mit ins Programm eingebaut, auf dem einer mit den platten Pneus rollte und ein Zweiter machte hinter ihm Faxen. Gelächter war garantiert und es war genau das was zählte. Applaus und Lacher…

Da kommt mir auch noch das in den Sinn… meine kleine Schwester, welche noch im Kinderwagen lag und ich aufpassen sollte, wurde kurzerhand mit an den Ort des Geschehens geschoben und schlief dort so gut wie sonst nie. Hahaha und war sie wach, kam sie mit ihren grossen braunen Kulleraugen über das Trieben nicht mehr aus dem Staunen.

Warum mir all das vor ein paar Tagen wieder in den Sinn kam? Bei einer Reportage über die aufkommende Armut in Deutschland erklärte ein Mädchen mit einem weinerlichen Gesicht: "Mama kann sich kaum mehr was für uns leisten. Kein Vergnügungspark, kein Eis essen, kein Kino und keine Markenklamotten mehr...Nun muss ich halt auf den Spielplatz zum Spielen." Sie sagte es so, als wäre es eine Schande wenn man sich als Kind dort aufhält.

 

Ich wünschte dem Mädchen, dass es das Geschenk eines Spielplatzes kennenlernt. Wo ein miteinander entstehen, Fantasie ausgelebt und vielleicht sogar ein Zirkus ins Leben gerufen werden kann. Vielleicht wäre auch sie die geborene Zirkusdirektor/IN hahaha und weiss es nur noch nicht. 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0